Eine Strecke ist die kürzeste geradlinige Verbindung zwischen zwei Punkten. Ein Jahr hat zwölf Monate, 52 Wochen und 365 Tage. Bald ist dieses hier zu Ende, ein neues beginnt und de facto haben wir damit wieder einmal eine Menge Zeit vor uns liegen, um reicher, gesünder und glücklicher zu werden.
Zumal wir doch heute jede Menge nützlicher Dinge haben, die uns eine perfekte Organisation unseres Lebens ermöglichen: Smartphones und Apps helfen dabei, nichts zu vergessen und effizienter zu werden, selbst im Tiefschlaf. Navis und Internet berauben uns jedes Zweifels, bevor er überhaupt entstehen kann und Wearables wie Fitnessbänder und Smartwatches geben pausenlos Aufschluss darüber, ob es uns eigentlich noch ganz gut geht. Das durch die Medien gehetzte Stichwort dazu: Selbstoptimierung. Es gibt mittlerweile kaum einen Lebensbereich oder eine Aufgabe, mit der wir beschäftigt sind, die wir nicht der ständigen Ergebnisbewertung und dem Vergleich mit anderen unterziehen. Eigentlich ist das als Rückversicherung gedacht, meist zeigt sich aber dabei: Vieles könnte noch besser sein und als Selbstoptimierer stehen wir in der Pflicht, alles dafür tun, dass es auch so wird. Es ist mit dem Begriff also kein bescheideneres Ziel verbunden, als vor uns selbst und in den Augen anderer perfekt zu werden und zu beweisen, dass wir eine Eins mit Stern dafür verdient haben, wie wir die Zeit, die uns auf Erden gegeben ist, ausschöpfen.
Leider hat das mit echter Diesseitsfreude nicht mehr sehr viel zu tun. Ein derart durchevaluiertes und jegliche Informations- und sonstige Grenzen leugnendes Leben ist nämlich längst keine Baustelle mehr, auf der auch einmal etwas bis morgen liegenbleiben darf. Es ist eine narzisstische Kampfzone, in der jede/r, gestützt von allerlei Gerät, im Dauerlauf zu beweisen hat, dass nichts und niemand ihn oder sie mehr wirklich auf- und von einer überragenden performance abhalten kann. Work und Life haben gefälligst ausbalanciert, Beruf und Familie vereinbar, die Jugend und Fitness unvergänglich, alle Optionen stets offen und nichts unmöglich zu sein. Wozu das eigene Glück er-leben, es ist allzu verlockend und auch machbar, selbst die Kontrolle darüber an sich zu reißen und alles gleich zu programmieren, weil man ja doch besser als sonst jemand über alles Bescheid weiß (Liebe karrierebewusste Damen, frieren Sie doch Ihre Eizellen ein bis zum „richtigen“ Zeitpunkt!). Die Devise heißt: Keine Probleme, nur noch Herausforderungen – und die gilt es alle vernünftig anzupacken! So lobenswert das ist: Dabei verlieren wir oft aus den Augen, dass ökonomische Prinzipien nicht für alles gelten müssen, das richtige Ergebnis nicht überall gleich wichtig ist und ein Weg zu einem Ziel, anders als eine Strecke, auch einmal ungeplant und kurvig verlaufen kann.
Getrieben vom besser als je sichtbaren Verbesserungspotenzial an allen Ecken und Enden, steigen auch unsere Wünsche, Erwartungen, Ängste und Besorgnisse in allen Lebenslagen mehr, als wirklich gut tut. Geschürt wird das Ganze noch von einem Überfluss an Dingen, die wir gelernt haben, als identitätsstiftend und überlebensnotwendig zu betrachten, uns aber eigentlich gar nicht leisten können. Und immer dann, wenn sich eine Kluft auftut zwischen Realität und Selbstbild, tritt Schurke Nummer 1 unserer Zeit auf den Plan: STRESS, der, ganz und gar nicht zufällig, überall da lauert, wo wir durch die selbstgemachte Flut an Informationen und Ansprüchen überfordert und uns dabei unserer Unzulänglichkeit bewusst werden. Und wenn uns dann nichts anderes einfällt, als mit noch mehr Leistungswillen und Perfektionismus zu reagieren, statt die Dinge auch mal ihren eigenen Lauf nehmen zu lassen, werden wir dieses Monster so schnell nicht mehr los.
Ja, wenn das so ist! Was sollen dann noch ein paar gute Vorsätze zum Jahreswechsel! Selbstoptimierung, das ist doch eine ganz andere Nummer! Wir arbeiten uns an uns selbst und aller Welt ab, rund um die Uhr, an allen Fronten und ohne Pause. Damit wir den Kampf um ein „besseres Leben“ endlich gewinnen. Also Hemdsärmel hoch, Augen zu und durch ins neue Jahr – Verzeihung: in 365 Tage mit je 12, nein 24 Stunden.
Halt! Nicht vergessen: Vorher ist noch Weihnachten! Das Fest, an dem (zumindest ursprünglich mal!) die Menschheit von ihrem Leid erlöst werden und zur Besinnung kommen sollte. Bevor es wieder an den Start geht, haben wir ein paar Tage Zeit und hoffentlich Gelegenheit, uns auf anderes, allzu (Zwischen)menschliches zu konzentrieren. Und uns darüber klarzuwerden, dass wir ALLE zum Glück längst (noch) nicht die Roboter sind, als die wir uns manchmal geben. Was doch eigentlich auch ok ist.
Wir von upDATE wünschen Ihnen eine frohe und unbeschwerte Zeit – auch im neuen Jahr!
Studien
Duke’s Fuqua School of Business: The burden of responsibility: Interpersonal costs of high self-control
Havas Worldwide: We’re not nearly as busy as we pretend to be
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