Alle sollen mitbestimmen, alle mitverantwortlich sein, niemand umständliche Freigabeprozesse durchlaufen müssen, bevor er eine Entscheidung fällt. Keiner soll eins auf den Deckel bekommen, wenn er seinen eigenen Kopf benutzt, keiner in seiner Motivation gedämpft werden dadurch, dass ihn jemand aus dem „Hochstatus“ heraus behandelt. Mitarbeiter sollen ihr Potential entfalten und ihre Ideen einbringen, statt an Routinetätigkeiten abzustumpfen. Alle unterstützen alle, statt um der eigenen steilen Karriere willen nach oben zu buckeln und nach unten zu treten. Wird das mit der Einführung flacher Hierarchien tatsächlich Wirklichkeit?
Schon der Begriff allein wirft Zweifel auf: Denn er mutet doch irgendwie recht wenig mutig an. Wenn „flach“, warum dann überhaupt noch „Hierarchie“ (laut Lexikon: „Über- bzw. Unterordnung“)? Genauso könnte man einen Wettlauf veranstalten, dann aber ganz nebenbei festsetzen, dass die Ziellinie ab jetzt bitte von allen Teilnehmern möglichst gleichzeitig erreicht werden soll. Die Spielregeln zu ändern, das Spiel und dessen Grundprinzipien aber beizubehalten – das zeugt nicht nur von Unsicherheit der Initiatoren, sondern führt auch zu Orientierungslosigkeit bei den Teilnehmern. Und genau die ist in vielen Unternehmen zu beobachten, die mit der Veränderung ihrer Führungs- und Entscheidungsprozesse beschäftigt sind. Besonders Führungskräfte im „mittleren Management“ (noch so ein hübsch vorsichtiger Begriff!) haben gut damit zu tun, den widerstrebenden Anforderungen flacher Hierarchien Genüge zu leisten: Einerseits ein erhöhtes Maß an erwarteter Entscheidungsfähigkeit und Eigenverantwortung, andererseits im Schatten fortbestehende Statusunterschiede, die sich in Informationssilos und verdeckter Kontrolle ausdrücken. Bei solchen halbherzig umgesetzten Enthierarchisierungs-Initiativen entsteht nicht unbedingt die hippe „Unternehmenskultur von morgen“, sondern erst einmal ein Vakuum an Sinn, Orientierung und Effizienz. Dem ist dann im schlechtesten Fall nur noch durch das ordnungsstiftende „Machtwort“ eines klassischen Alphatiers beizukommen. Was dann wiederum die Zweifler in der Annahme bestätigt, dass ohne echten „Boss“ nicht wirklich was vorangehen kann.
Doch selbst radikal und konsequent umgesetzt ist das horizontale Verteilen der Verantwortung auf mehrere, gar auf alle Schultern, mit vielen Risiken behaftet, welche Work Flow, Motivation und Effizienz empfindlich dämpfen können – darauf weist zum Beispiel Stefan Kühl in seinem provokanten Buch „Wenn die Affen den Zoo regieren“ hin. Die Politikwissenschaftlerin Jo Freeman diagnostizierte gar eine „Tyrannei der Strukturlosigkeit“ in bekennend hierarchielosen Organisationen. Ins Unsichtbare abgleitende Machtkämpfe sind kaum kontrollierbar und erzeugen eine lähmende Atmosphäre der Unsicherheit bei eigentlich hochmotivierten Mitarbeitern. Weitere Herausforderungen: Statusorientierte Mitarbeiter wandern gern zu traditionell organisierten Unternehmen ab oder können sich im Team aufgrund fortbestehenden Konkurrenzdenkens gegenseitig nicht ausreichend Anerkennung und Motivation liefern. Gehaltsunterschiede werden schwerer begründbar, Zuständigkeitsbereiche nicht ausreichend geklärt oder ungerecht verteilt. Schnell kann es da auch passieren, dass Einzelne genau dies dazu missbrauchen, narzisstische Bedürfnisse nach Geltung, Selbstverwirklichung und Macht subtil und unkontrolliert auf Kosten anderer zu befriedigen.
Was muss noch passieren, damit Menschen besser zusammenarbeiten und Unternehmen durch schnellere Entscheidungsprozesse flexibler agieren können? Es könnte sich beim Konzept der „flachen Hierarchien“ ja durchaus um eine typische Denkfalle handeln, wie sie Rolf Dobelli in seinem Ratgeber „Die Kunst des klugen Handelns“ beschreibt: Um die Lösung für ein Problem zu finden, neigt man dazu, Ideen unwillkürlich mit dem Status Quo zu vergleichen und Vor- und Nachteile ausschließlich dagegen abzuwägen. Andere, weiter abseits liegende Ansatzpunkte rücken gar nicht erst in den Blick, obwohl sie möglicherweise vielversprechender sind. Am Thema Hierarchie anzusetzen, wenn es darum geht, Mitarbeiterzufriedenheit, Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit zu stärken bzw. zu erhalten, ist – weil man Probleme ja immer gern auf die Führungsebene schiebt – ein naheliegender Ansatz, aber möglicherweise noch nicht der Weisheit letzter Schluss. Schwierigere, möglicherweise aber auch weitreichendere Lösungsstrategien liegen zum Beispiel im Bereich der Personalauswahl und -qualifizierung, sowie der Unternehmensmission und -kultur: Welche Stärken, welche Fähigkeiten werden von Mitarbeitern, die Entscheidungen steuern, benötigt, damit in einem modernen Unternehmen eine konstruktive Arbeitsatmosphäre mit hoher Reaktionsgeschwindigkeit und Flexibilität entsteht?
Der Lernforscher Manfred Spitzer zeigt, dass für die Neu-Bildung neurologischer Verbindungen, also das lebenslange Lernen unseres Gehirns, weniger die „Methode“ und andere Rahmenbedingungen ausschlaggebend sind, als die Begeisterung, die jemand auf uns überträgt, weil er an das glaubt, was er tut und vermittelt. Dieser Enthusiasmus fordert uns in stärkerem Maße zur Nachahmung heraus als alles andere, er setzt das Belohnungssystem in unserem Gehirn in Gang und erzeugt damit Motivation. So betrachtet spricht in einer lernwilligen und innovationsbereiten Organisation eigentlich gar nichts gegen Hierarchien: Es ist durchaus lehrreich und menschlich, zu jemandem oder etwas hierarchisch Übergeordnetem „aufschauen“ und sich an ihr/ihm orientieren zu können, seien es eine oder mehrere beeindruckende Führungspersönlichkeiten oder eine überzeugende Unternehmensmission, die anstelle einer personell geprägten Hierarchie und disziplinarisch agierenden Verkörperung von Macht tritt.
Für die heute von vielen Unternehmen angestrebten Ziele müssen also möglicherweise nicht zuallererst die hierarchischen Strukturen abgeschafft oder verflacht werden, sondern deren traditioneller Missbrauch, mit dem insbesondere eine wenig grenzen- und autoritätsgewohnte jüngere Generation immer weniger konfrontiert sein möchte: Führungskräfte und -ebenen, die den Statusunterschied ausnutzen und statt Motivation zu fördern die Angst vor Sanktionierung schüren, zum Beispiel durch übermäßige Kontrolle, Machtausübung, Intrigen und bewusstes Vorenthalten von Informationen zugunsten eigener Interessen. Das bereitwillige Teilen von Wissen und Erfahrung dagegen, Kooperationsbereitschaft, Empathie und Begeisterung für die Sache, eine offene Kommunikationskultur und ein gemeinsam verfolgtes Ziel – das alles sind Qualitäten, die in erster Linie an Personen und erst in zweiter an bestimmte Strukturen gebunden sind. Ein Umkrempeln der Strukturen wird also ohne entsprechende Qualitäten von Teams und Führungskräften wenig erfolgreich sein.
Doch wie baut man diese Qualitäten auf? Vor kurzem zeigte eine Studie, dass Unternehmen zwar viel Geld für Führungstrainings ausgeben, diese aber nur selten wirklich Erfolg in der Praxis zeigen. Viele gute und teure Initiativen verpuffen trotz aller Bemühungen schließlich in der Alltagsrealität. Um sich Herausforderungen wie Digitalisierung, Fachkräftemangel, Mobilität und Work Life Balance zu stellen, so bestätigen die Autoren, reicht es offenbar nicht aus, nur an einzelnen Schrauben zu drehen, zum Beispiel Kompetenzentwicklung zu betreiben. Stattdessen müssten grundsätzliche Vorannahmen hinterfragt und nicht weniger als mentale Muster (!) von Führungskräften verändert werden. Für Entwicklungsprogramme lässt sich daraus ableiten, dass diese idealerweise ganzheitlich statt kompetenzorientiert und vor allem langfristig ausgerichtet zu sein. Letztendlich geht die Herausforderung aber so gesehen noch viel weiter, weit über die Unternehmenswelt hinaus: Denn für die Entwicklung von Werten und Urteilsvermögen, sowie für Toleranz und Aufgeschlossenheit gegenüber Anderem ist, um nochmals Spitzer zu zitieren, die sogenannte „Varianz“ von Erfahrungen innerhalb der gesamten persönlichen Biographie wesentlich. Solche Erfahrungen zu sammeln und den Perspektiv- und Kontextwechsel zu üben, dürfte in einem von Zeit- und Leistungsdruck bestimmten Bildungssystem und einer durchgetakteten Arbeitswelt mit notorisch überlasteten Entscheidungsträgern nicht unbedingt einfacher werden. Aber die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt.
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Zum Lesen:
Stefan Kühl: Wenn die Affen den Zoo regieren. Die Tücken der flachen Hierarchien. Frankfurt: Campus Verlag, 2015
Jo Freeman: The tyranny of structurelessness.
Manfred Spitzer: Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag, 2002
Wirtschaftswoche: Unternehmensstruktur: Die Mär von flachen Hierarchien
business-wissen: Hierarchien wird es noch lange geben
Capital.de: Das Ende der Firmenhierarchie
Capital.de: Gute Stimmung im Team steckt Chefs an